Auch wenn man mit dem konkurrierenden, individuellen und kooperativen Lernen drei voneinander verschiedene Lernformen bezeichnet, ist individuelles Lernen nicht losgelöst von Lernen in Gruppen denkbar. Alles, was Schülerinnen und Schüler in kooperativen Lernsituationen lernen, trägt in der einen oder anderen Form zur Stärkung ihrer Individualität bei.
Ein Basiselement des Kooperativen Lernens ist die Übernahme individueller Verantwortung. Diese betrifft die Übernahme von Verantwortung für sich selbst und andere. Der Einzelne übernimmt Verantwortung für sein eigenes Verhalten und Lernen und setzt sich auch für andere in der Gruppe ein.
Geht man davon aus, dass das Gehirn des Menschen ein Sozialorgan ist und er im Wesentlich über den Kontakt zu anderen Menschen lernt (Spitzer 2004), kann Lernen nicht isoliert von Interaktion betrachtet werden. Das Gehirn ist so angelegt, dass es im Wesentlichen auf die Reize in der Umwelt reagiert, die relevant für das Überleben der menschlichen Rasse sind. Spiegelneurone im Gehirn sorgen schon in frühester Kindheit dafür, dass Verhalten imitiert und somit in seinen Grundzügen erworben wird. Experimente mit Kindergartenkindern haben gezeigt, dass sie am besten lernen, wenn der Lernstoff durch eine Person vermittelt wird. Erst wenn wesentliche Grundstrukturen im Gehirn aufgebaut sind, kann Lernen auch auf überwiegend medialem Weg erfolgen.
Jugendliche orientieren sich verstärkt an Gleichaltrigen und brauchen die Kommunikation mit ihnen, um Entscheidungen zu treffen und Einstellungen auszubilden. Durch die Umstrukturierung im Stirnhirn wird die soziale Wahrnehmung beeinträchtigt. Über Interaktion mit Gleichaltrigen und Erwachsenen bilden sich allmählich Areale für soziale Wahrnehmung und Urteilsvermögen. Störungen im Lern- und Sozialverhalten können möglicherweise mit dieser neuronalen „Auf- und Umrüstung“ zusammen hängen. In dieser Phase kommt es auch zum Aufbau eines eigenen Wertesystems. Auch hierzu ist Kommunikation unabdingbar.
Neben Kommunikation und menschlichen Vorbildern sind auch Gefühle maßgeblich für positive Lernprozesse. Positive Gestimmtheit, Erfolg und Erfolgserwartungen, Bindung und das Gefühl von Sicherheit tragen maßgeblich zur Ausbildung von Selbstwertgefühl und Vertrauen in Selbstwirksamkeit bei. Bei vielen Schülerinnen und Schülern bestimmt der soziale Kontext, in wie weit diese Faktoren ausgebildet werden. Lernen sollte in einer angstfreien Atmosphäre erfolgen. Hierbei spielt ein positives Sozialklima eine bedeutende Rolle. Eine stressfreie Lernatmosphäre führt zu besseren Behaltensraten. Zu Bedenken ist hierbei, dass soziales Miteinander sorgfältig eingeübt werden muss. Individuelle Förderung hat also viel mit der Schaffung eines sozialen Klimas zu tun. Nur wenn der Einzelne sich in seiner Klasse oder Gruppe sicher und angenommen fühlt, kann er die von ihm geforderten Leistungen erbringen bzw. verbessern.
Individuelle Förderung bedeutet für die Lehrkraft, sich mit den Stärken und Schwächen ihrer Schülerinnen und Schüler auseinander zu setzen und Mittel und Wege zu finden, sie zu fördern. Um diese Leistung erbringen zu können, sind genaue Beobachtung, der Einsatz diagnostischer Mittel, differenzierte Planung und Begleitung durch Einsatz geeigneter Lernmittel und –methoden nötig. Insbesondere in Klassen mit vielen Schülerinnen und Schülern kann Kooperatives Lernen der Lehrkraft bei dieser Aufgabe helfen.
Während die Schülerinnen und Schüler in ihren Gruppen arbeiten, hat die Lehrkraft Zeit und Gelegenheit die Einzelnen zu beobachten. Sie kann so feststellen, welche Schülerinnen und Schüler Probleme mit dem Lernstoff haben. Gegebenenfalls kann sie sich mit einzelnen Schülerinnen und Schülern zusammensetzen und mit ihnen Schwierigkeiten abklären während die anderen Schülerinnen und Schüler an ihren Aufgaben weiter arbeiten. Sie kann ihnen über einen gewissen Zeitraum hinweg andere Aufgaben stellen bis sie den Lernstoff verstanden haben.
Im Rahmen von Gruppenarbeit können auch leistungsstarke Schülerinnen und Schüler den Auftrag erhalten, sich um schwächere Schülerinnen und Schüler zu kümmern. Hiervon profitieren sowohl die schwächeren als auch die stärkeren Schülerinnen. Leistungsstarke Schülerinnen und Schüler werden sicherer, da sie den Lernstoff noch einmal mit eigenen Worten erklären. Möglicherweise haben sie auch ein besseres Gespür für die Aspekte, die den anderen Schülerinnen und Schülern Probleme machen. Die schwächeren Schülerinnen und Schüler verstehen oftmals die Erklärungen ihrer Mitschülerinnen und Mitschüler besser als die der Lehrkraft. Und sie trauen sich eher Gleichaltrigen im geschützten Raum der Kleingruppe Fragen zu stellen.
Bei Gruppenarbeit können Lehrerinnen und Lehrer Aufgaben so verteilen, dass auch schwächere Schülerinnen und Schüler die Möglichkeit der Mitarbeit erhalten und ihre Stärken einsetzen können. Auf diese Weise erhalten Leistungsschwächere Bestätigung und Selbstvertrauen und werden zugänglich für die Arbeit an ihren Schwächen.
Wenn Gruppen gut trainiert sind und die Gruppenmitglieder gelernt haben, ihre Leistungen und ihren Arbeitsprozess selbst einzuschätzen, können Schülerinnen und Schüler sich gegenseitig bewerten und beraten. Kritik und Verbesserungsvorschläge kommen dann nicht von der Seite der Lehrkraft, sondern von anderen Schülerinnen und Schülern und werden eher angenommen.
Lehrerinnen und Lehrer, die Zeit und Energie darauf verwenden, ihre Schülerinnen und Schüler sorgfältig darin anzuleiten miteinander zu arbeiten und sich gegenseitig zu bewerten, tragen dazu bei, sie zu selbstbestimmten und eigenverantwortlichen Lernern zu machen.